Ausgelöst durch die wieder einmal aufgeflammte Diskussion über die Mathematik-Matura und allgemeiner die Bedeutung von Mathematik als wesentlicher Teil von Allgemeinbildung möchte ich ein paar Gedanken aufschreiben.
Heute beginne ich mit einer wahren Geschichte.
Eine befreundete AHS-Lehrerin meiner Altersgruppe (ich bin Jahrgang 1948, sie ist etwas jünger) mit den Fächern Deutsch und Philosophie ersuchte mich vor einiger Zeit, ihr bei einem Problem zu helfen.
Ich muss gleich vorausschicken, dass sie in Mathematik mit der Note 1 maturiert hat.
Sie wollte einen Teil eines Grundstücks verkaufen. Die Fläche war ein Viereck und sie wollte die Formel, mit der man die Fläche eines Vierecks berechnet.
Auf meine Festellung, dass das nicht so einfach sei, weil es keine allgemeingültige Formel für die Fläche von Vierecken gibt, reagierte sie unwirsch (ich vermute, sie zweifelte da an meiner mathematischen Kompetenz).
Ich bat sie, mir den Plan mit dem Grundstück zu zeigen. Sie zeigte mir einen Plan, der etwas so aussah.
Meine Reaktion war (natürlich): Ah, das ist ja ein Trapez, noch dazu eines mit zwei rechten Winkeln.
Ich erntete verständnislose Blicke. Was ein Trapez ist, war ihr nicht mehr erinnerlich.
Daraufhin sagte ich: Da gibts eine recht einfache Formel, lass mich dir zeigen, wie man die sehen kann.
Ich erntete eine sehr strikte Weigerung, ich durfte die Formel nicht erklären. Mein Einwand, dass das ganz einfach sei und man dann auch verstünde, warum die Formel so aussieht wie sie aussieht, wurde weggewischt.
Ich war daraufhin so verärgert, dass ich sagte: wenn ich die Formel nicht erklären darf rechne ich die Fläche nicht aus.
Das nützte nichts. Ich weigerte mich weiterhin hartnäckig, aber meine kluge Frau erbarmte sich ihrer Freundin und rechnete die Fläche mit der Trapezflächenformel aus.
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Ihrer Selbsteinschätzung nach war diese Dame sehr gebildet. Sie war tatsächlich sehr belesen und hatte umfangreiches Wissen über (deutschsprachige) Literatur.
Zu wissen was ein Trapez ist betrachtete sie aber deutlich erkennbar nicht als Teil von Bildung, obwohl sie gelegentlich durchaus stolz darauf hinwies, dass ihre Mathematikmaturanote ein Einser war.
Wirklich verstörend war für mich aber die Tatsache, dass sie sich weigerte, sich einen (einfachen) mathematischen Sachverhalt erklären zu lassen. Sie sagte mehrfach: Sag mir einfach die Formel. Sie wollte den Sachverhalt nicht verstehen, sie wollte nur eine Zahl als Antwort. Wie die Antwort zustandekommt fand sie unwesentlich.
Bei solchen Gelegenheiten finde ich immer, dass die Analogie wäre: Ich will die Musik nicht hören, ich will nur die Noten sehen.
Warum erzähle ich diese Anekdote?
Für mich zeigt die Geschichte, wie wenig für sie der Umgang mit simpler Mathematik Teil von Bildung war. Für sie war Mathematik nur Einsetzen von Zahlen in Formeln. Verständnis für das, was dahintersteckt, war für sie nicht Teil von Allgemeinbildung.
Ich fürchte - und finde diese Befürchtung immer wieder in Gesprächen bestätigt - dass diese Einstellung auch unter jüngeren Leuten immer noch verbreitet ist.
Meine Vermutung: Man wird auch heutzutage kaum Mathematiklehrer_innen finden, die nicht wissen, dass Goethe der Autor von Faust ist, aber man wird wohl immer noch Deutschlehrer_innen finden, die nicht mehr wissen, was ein Trapez ist.
Fortsetzung folgt.