Am 30. März hat Bundeskanzler Sebastian Kurz in einer Pressekonferenz und in Interviews sinngemäß erklärt, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an COVID-19 verstorben ist.
Zur selben Zeit war in der Öffentlichkeit von 100.000 und mehr Toten die Rede.
Das waren sehr dramatische Aussagen, die sicher dazu beigetragen haben, dass die ganzen Restriktionsmaßnahmen (Maskenpflicht, Schulschließungen, Restaurantschließungen, Ausgangssperren, …) akzeptiert und befolgt wurden.
Bis heute (19. Mai) gibt es tatsächlich 632 COVID-19-Todesfälle.
Was war also die Grundlage dieser sehr pessimistischen Vorhersage?
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Infektionszahlen bis zum 29. März.
Es gibt 3 Datenquellen. Die von der AGES erarbeiteten Zahlen, die das Gesundheitsministerium publiziert, die Zahlen vieler Staaten, die die Johns-Hopkins-Universität sammelt und zur Verfügung stellt und die Zahlen aus dem EMS (Epidemiologischen Meldesystem).
Alle 3 Kurven scheinen einen annähernd exponentiellen Verlauf zu zeigen.
Die EMS-Kurve zeigt die höchsten Zahlen, weil die Zahlen dort früher als in den anderen Datenquellen zur Verfügung stehen. Wie wir später sehen werden ist die EMS-Kurve der AGES-Kurve typischerweise einen Tag voraus.
Eine weitere Zahlenreihe, die für Verlaufsabschätzungen sehr wesentlich ist, sind die Zahlen der durch COVID-19 verursachten Todesfälle.
Die beiden Kurven sind praktisch identisch und zeigen ebenfalls exponentiellen Verlauf.
Sowohl die Kurven der registrierten Fälle als auch die Kurven der Todesfälle scheinen einen einigermaßen bedrohlichen Verlauf zu zeichnen.
Exponentielle Verläufe haben eine wesentliche Eigenschaft: Auch die Veränderungen von einem Tag zum nächsten zeigen dieselbe Kurvenform.
Sehen wir uns daher den täglichen Zuwachs der registrierten Fälle an und markieren wir auch den Datenbestand, der ziemlich sicher die Datengrundlage für die sehr ernste Warnung vor „drohendem Unheil“ gebildet hat, den 28. März.
Diese Kurven sind unregelmäßiger als die Kurven der kumulierten Zahlen. Grund dafür sind möglicherweise verzögerte und dann stoßweise durchgeführte Meldungen. Die Zahlen gehen ab dem 26. März stark zurück.
Bei den Daten der COVID-Todesfälle sehen die Kurven so aus:
Bei diesen Zahlen sind die Schwankungen weitaus stärker ausgeprägt als bei den neuregistrierten Fällen. Die Zahlen sind aber noch ziemliche gering und wohl für Extrapolation und Prognosen mit statistischen Methoden wenig geeignet. Außerdem muss man berücksichtigen, dass zwischen Auftreten der Erkrankung und Tod normalerweise Tage bis Wochen verstreichen, diese Kurve liefert also auf jeden Fall ein verzögertes Bild der Ausbreitung der Pandemie.
Was können wir statistisch einigermaßen abgesichert aus diesen Kurven erschließen?
Der Verlauf der kumulierten Zahlen positiv Getesteter scheint exponentiell zu sein und mahnt daher zur Vorsicht. Die Abnahme der Zahlen neu registrierter Fälle ab dem 26. März liefert also Hinweise darauf, dass die Phase der extrem hohen Zuwächse möglicherweise gerade zu Ende gegangen ist. Da es immer wieder zu Problemen in der Datenweitergabe gekommen ist, sollte diese Interpretation aber mit großer Vorsicht betrachtet werden.
Aus der Sicht eines datenorientierten Statistikers kann man sagen, dass die Datenlage am 28. März auf einen möglichen Strukturbruch der Entwicklung hingewiesen hat, das aber noch nicht ausreichend schlüssig belegt hat.
Weder die Aussagen über viele zu erwartende Tote noch Aussagen, dass man zu diesem Zeitpunkt schon sicher gewusst habe, dass die Ausbreitung unter Kontrolle gebracht sei, werden durch die Daten als unumstößliche Schlussfolgerung belegt.
Mittlerweile (Stand 19. Mai) haben wir 632 COVID-19-Todesfälle. Da scheint mir die Formulierung, dass jeder jemanden kennen werde, der an dieser Krankheit gestorben ist, doch etwas überzeichnet.
Wir haben (ebenfalls Stand 19. Mai) 16.231 positive Test. Um den 28. März herum gab es ungefähr 1000 positive Testergebnisse. Davon, dass die Entwicklung da schon „umgedreht“ wurde, kann aber meiner Meinung nach auch nicht die Rede sein.