\(R_0\)
, die Basisreproduktionszahl, gibt an, wieviele nicht immune Personen eine infizierte Person im Schnitt über ihren gesamten Infektionszeitraum hinweg ansteckt.
Liegt der Wert über eins, steckt jede Person mehr als eine weitere Person an und als Folge steigt die Zahl der Infizierten mit exponentiellem Wachstum. Liegt der Wert unter eins, nimmt die Zahl der Neuerkrankungen ab. Und bei \(R_0=0\)
kommt es zu keinen neuen Infektionen mehr, die Krankheit ist nach einiger Zeit zumindest lokal ausgerottet.
Diese Zahl kann man nicht unmittelbar beobachten, man kann sie aber näherungsweise aus beobachteten Daten berechnen. Dazu brauchen wir zwei Inputs: Die durchschnittliche Dauer des Zustands, in dem ein Infizierter andere infizieren kann, und die Zahl der Infizierten am Anfang und am Ende so eines Zeitraums.
Rechnen wir das einmal vereinfacht:
Wir nehmen auch an, dass vor 10 Tagen 1000 Leute infektiös waren und die genau 10 Tage lang infektiös geblieben sind. Wenn dann die Basisreproduktionsrate \(R_0\)
den Wert 2 hat, dann haben die ursprünglich Infizierten 2000 weiter Personen infiziert es gibt jetzt insgesamt 3000 Infizierte.
Die Berechnung aus den Daten, die wir haben, ist schwieriger, weil die jeweils aktuelle Zahl der registrierten infizierten Fälle auch die enthält, die schon vor längerer Zeit infiziert wurden und daher nicht mehr infektiös sind. Außerdem braucht man eigentlich auch die Zahl der asymptomatisch Infizierten, also all derer, die zwar Infektionsträger sind und andere infizieren können, das selbst aber gar nicht merken.
Mit aufwändigeren Rechenverfahren kann man aber \(R_0\)
aus den vorliegenden Zahlen zumindest näherungsweise schätzen. Exakt geht das aus mehreren Gründen nicht: Zum Beispiel, weil wir asymptomatische Fälle gar nicht erfassen und weil wir auch den Zeitraum, in dem jemand nach einer Neuinfektion andere infizieren kann, nicht genau kennen. Diese Verfahren gehen von Modellannahmen aus, und da verschiedene Wissenschafter dabei verschiedene Annahmen machen, können sie auch zu verschiedenen Ergebnissen kommen.
Hätten wir Tracking, also alle Infektionsketten (inklusive asymptomatischer Fälle) komplett dokumentiert, dann könnten wird die Basisreproduktionszahl aus diesen Daten konkret berechnen. Infektionsketten kennen heißt, dass man bei jedem Infizierten weiß, wann er von welcher anderen Person infiziert wurde. Das ist aber einerseits technisch nicht durchführbar und würde auch bedeuten, dass wir wirklich alle Infizierten (auch die asymptomatischen) erfassen müssten.
Wieso ist \(R_0\)
dennoch eine derart wichtige Kenngröße? Weil die langfristigen Trends in der Entwicklung der Zahl der Infizierten gut zum Ausdruck gebracht werden. \(R_0>1\)
bedeutet, dass diese Zahl exponentiell zunimmt. \(R_0=1\)
heißt, dass die Zahl der Neuinfektionen annähernd konstant bleibt, und R0<1 bedeutet, dass die Zahl der Neuinfektionen laufend abnimmt.
Es gibt noch weitere Größen, die mit \(R_0\)
zusammenhängen. \(R_0\)
ist ja im Grunde genommen die Zahl der Neuinfektionen, die von einem Infizierten ausgehen, wenn es in der gesamten Bevölkerung noch kaum immune Personen gibt und auch keine Einschränkungen beim Sozialverhalten erfolgt sind. Sie ist also eine Kennzahl einer Krankheit, die sich „in freier Wildbahn“ ausbreiten kann.
Wenn schon ein merkbarer Teil der Bevölkerung immun ist, dann führen Kontakte zwischen Infizierten und Immunen ja zu keiner Neuinfektion mehr, ein Infizierter wird also weniger Infizierbare anstecken. Die Kennzahl, die angibt, wieviele Neuinfektionen in dieser Situation von einem Infizierten ausgehen, wird mit \(R_{\text{eff}}\)
(R effektiv) bezeichnet. Und schließlich ändert sich die Basisreproduktionszahl auch im Laufe der Zeit durch Maßnahmen wir Quarantäne und Social Distancing.
Will man ausdrücken, dass diese Zahl sich im Laufe der Zeit durch verschiedene Maßnahmen ändert, dann wählt man die Bezeichnung \(R_t\)
. Wenn jetzt in der Öffentlichkeit immer wieder davon gesprochen wird, dass \(R_0\)
gesenkt wurde, dann ist das eigentlich ungenau. Gemeint ist da eine Kennzahl, die die Eigenschaften von \(R_{\text{eff}}\)
und \(R_t\)
kombiniert. Wollte man (als pizeliger Mathematiker) das korrekt anschreiben, dann müsste man die Bezeichnung \(R_{t,\text{eff}}\)
verwenden.
Noch etwas wichtiges: Aus den Verlaufskurven der Infiziertenzahlen alleine lässt sich
\(R_0\)
oder \(R_t\)
oder \(R_{\text{eff}}\)
oder \(R_{t,\text{eff}}\)
nicht schätzen.
Man muss dazu auch noch die Zeitdauer kennen, die verstreicht, bis ein Infizierter
weitere vorher noch nicht Infizierte infiziert.
Wenn die Zeit bis zu den Neuinfektionen länger ist, dann ist die Zuwachsrate bei den Infizierten natürlich geringer, weil der volle Zuwachs mit \(R_0\)
oder den anderen \(R\)
-Werten ja erst später eintritt.
Ohne zusätzliche Kenntnis über die typische Zeit bis zur Neuinfektion kann man also die diversen \(R\)
-Werte aus dem Kurvenverlauf der Infizierten nicht erschließen.
Was man mit \(R_0\)
aber errechnen kann ist der Anteil an Immunisierten, bei dem volle Herdenimmunität auftritt.
Beispiel: Wenn \(R_0=2\)
, wenn also jeder Infizierte unter normalen Bedingungen (es gibt noch ganz wenige Immunisierte) 2 noch nicht infizierte ansteckt, dann ist die Herdenimmunität erreicht, wenn 1/2 der Bevölkerung die immun sind, entweder weil sie die Krankheit ducrhlaufen haben und danach ausreichend Antikörper entwickelt haben, oder
wenn es eine Schutzimpung gibt, die ebenfalls gegen die Krankheit immunisiert.
Von den 2 Personen, die ein Infektiöser dann typischerweise infizieren würde,
ist nämlich eine Person immun. Es kommt daher nur zu einer Infektion, und damit
nimmt die Zahl der Infizierten nicht zu.
Wenn also eine Krankheit die Basisreproduktionszahl \(R0\)
hat, dann ist Herdenimmunität erreicht, wenn ein Anteil von \(\frac{R_0-1}{R_0}=1-\frac{1}{R_0}\)
immun ist.
Ist \(R_0=3\)
, steckt also ein Infektiöser typischerweise 2 nichtinfizierte nichtimmune an,
dann ist die Herdenimmunität erreicht, wenn \(\frac{2}{3}\)
der Bevölkerung immun sind.
Wie schnell Herdenimmunität erreicht wird hängt davon ab, wie schnell ein Infektiöser
die \(R_0\)
Neuinfizierten ansteckt. Der Prozentsatz, bei dem die Herdenimmunität eintritt,
ist aber unabhängig von der Infektionsgeschwindigkeit.
Dieser Beitrag wurde auch in der Online-Version der Tageszeitung Kurier veröffentlicht.